John von Düffels Hotel Angst
Vor einhundert Jahren galt es als die erste Adresse unter den europäischen Grandhotels, heute steht es für den untergegangenen Traum einer Epoche: das Hotel Angst im kleinen Badeörtchen Bordighera an der italienischen Riviera. Als Kind ist er oft dort gewesen, gemeinsam mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder, immer in den Sommerferien. Jetzt, mehr als ein Vierteljahrhundert später, ist der Vater tot – und den Erzähler zieht es noch einmal nach Bordighera. Nach dem einstigen Glanzstück dieses Ortes, jenem Hotel Angst, hat John von Düffel seine kleine Erzählung benannt, die kürzlich im Kölner DuMont-Verlag erschienen ist.
»Man kennt keinen Menschen, solange man nichts von seinen Träumen weiß«, heißt es an einer Stelle. So wird die Reise des Erzählers zu einer Reise nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch zu den Träumen und zu einem wohlbekannten und doch fremden Menschen: dem Vater. Seinen Traum, nach der Ausbildung zum Bauingenieur Architektur zu studieren, hatte er für seine Familie aufgeben müssen und sich doch nie ganz davon verabschiedet. Mit Akribie plante und entwarf der Vater in jenen Sommermonaten in Italien die Wiedereröffnung des Hotel Angst im Glanze der Vergangenheit. »Er war ein präziser Träumer«, sagt Klaus Fechner, ein Jugendfreund des Vaters, über ihn. Ein Träumer, der seinen Traum nicht preisgab, auch nicht, wenn er anders vielleicht realisierbar gewesen wäre. »Er hat das Machbare immer verachtet. Vielleicht war das feige, vielleicht war es auch das einzig Richtige, sich seinen Traum als Traum zu bewahren.« Der Sohn aber kam nicht vor in den präzisen Träumen des Vaters, er kannte sie nicht einmal. Aber auch er träumte: von den hübschen Töchtern Fechners, die nahe und doch unerreichbar für ihn waren, und manchmal verschmolzen die knabenhaften Träume von den Mädchen mit dem Traum vom Hotel Angst:
Dein Traum von Yvonne und Yvette war mit dem Hotel Angst verschmolzen, mit dem, was es war und was es wieder sein könnte. Der lange Schatten der Vergangenheit, der über allem lag, war dir zwar nach wie vor nicht geheuer. Doch gerade das Unheimliche daran schien eine Bedingung des Träumens zu sein. Nur Träume, die das Hotel Angst und deine vielfältigen Ängste streiften, wurden wirklich groß.
Angst-Träume hielt Bordighera bereit – im doppelten Sinne: den Traum vom Hotel Angst, wie ihn der Vater träumte, und den Angst-Traum des Sohnes aus Kindertagen, dessen Wurzel in eben jenem Hotel liegt. Freudianisch klingt da jene Äußerung Fechners: »Jeder große Traum verläuft an der Grenze zum Alptraum […], das, wovor man Angst hat, und das, wonach man sich sehnt, ist im Grunde dasselbe.«
Außer Erinnerungen ist von diesen Träumen scheinbar nicht viel geblieben – bis Fechner dem Sohn einen DIN A4-Umschlag überreicht, den der Vater wenige Wochen vor seinem Tod verschickt hat. Was er darin findet, sind Dokumente eines Traums, doch ganz anderer Art, als er erwartet hätte: nämlich, anstelle von Konstruktionsplänen des Hotels, ein fingerdickes Manuskript mit Vorstudien für einen Roman. Dessen Verwirklichung musste scheitern, und sie muss es wieder: Der Vater war ein Träumer, kein Erfinder – und der Sohn muss erkennen, dass es unmöglich ist, den Traum eines anderen Menschen zu träumen. »Man kann versuchen, ihn sich auszumalen, ihn nachzuvollziehen, aber man wird immer eine Spur zu wach sein, um voll und ganz in diesen Bildern zu leben.« So muss auch der Roman des Traums bleiben, was er war – ein Traum.
Und doch verlässt der Erzähler Bordighera um eine Erfahrung reicher: Nach all den Jahren hat er seinen Vater kennen gelernt. Ihn, der nicht das Schicksal des Erbauers des Hotel Angst teilen musste: seinen Traum zu überleben.
Auf der Basis des realen Schicksals eines einst ruhmreichen Hotels gelingt John von Düffel mit Hotel Angst das, was dem Erzähler seiner Geschichte verwehrt bleibt: den Traum des Vaters in Buchform zu bringen, ihn ein Stück weit unsterblich werden zu lassen. Der vereinzelt erhobene Vorwurf, er gerate dabei in gefährliche Nähe zum Kitsch des »Heftchenromans«, bestätigt sich durch die Lektüre nicht, auch wenn die ein oder andere Formulierung tatsächlich sentimental überladen wirken mag.
»Eine Traumnovelle« nennt diese Kritik John von Düffels Erzählung in der Überschrift und nimmt damit nicht zuletzt eine durchaus problematische Gattungszuschreibung vor. Mit Arthur Schnitzlers gleichnamigem Werk hat Düffels ›Traumnovelle‹ Hotel Angst – bei allen Unterschieden – doch etwas nicht Unwesentliches gemein: den Traum als psychologisches Moment der Selbst- und Fremderfahrung und als denjenigen Ort, in bzw. an dem die Beschränkungen von sozialer Rolle und kontrolliertem Vernunfthandeln für begrenzte Zeit aufgehoben sind.
Lässt man sich einmal auf das Werk und die etwas ungewohnte Erzählperspektive ein – Düffel wählt die zweite Person Singular –, lädt es dazu ein, die Welt des Traumes nicht nur zu entdecken, sondern auch zu hinterfragen: »Man kennt keinen Menschen, solange man nichts von seinen Träumen weiß.«
John von Düffel: Hotel Angst. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag, 2006 (Reihe »Speicher«). 108 Seiten. ISBN 3-8321-7957-7. 7,50 Euro.
Erstveröffentlichung: Kritische Ausgabe+ – Online Magazin der Kritischen Ausgabe, 15. Juni 2006